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Abbild und Sinnbild – das Menschenbild als plastisches Gleichnis

Das Schwierige ist nicht, die Dinge zu machen, sondern die Bedingungen zu schaffen, unter denen man sie machen kann.
Constantin Brançusi

Hubertus von der Goltz kommt aus der klassischen Bildhauerei. Sein Studium an der Hochschule für bildende Künste in Berlin schloss er 1977 als Meisterschüler von Joachim Schmettau ab. Eines der bekanntesten Werke seines Lehrers ist sicherlich der von den Berlinern liebevoll „Wasserklops“ genannte Weltkugelbrunnen (1981-83) vor dem Europacenter auf dem Kurfürstendamm. Als figurativer Bildhauer verkörperte Joachim Schmettau ein Menschenbild, das sich nie auf eine bloße naturhafte Nachzeichnung beschränkten wollte, sondern in seinen Arbeiten suchte er vielmehr das existentiell Gleichnishafte und zeitgenössisch Exemplarische im Bilde der menschlichen Figur. Vor diesem Hintergrund sind auch die frühen Arbeiten von Hubertus von der Goltz zu verstehen. Das lebensgroße Eisengussbildnis seines Vaters mit dem Titel „Alter“ aus dem Jahre 1983 beispielsweise markiert gleichzeitig Höhepunkt und Zäsur im frühen Werk von Hubertus von der Goltz. Die Formulierung trägt charakteristische porträtnahe Züge und ist doch soweit in Form und Aussage zu einer exemplarischen Botschaft verdichtet. Die Figur steht ohne Sockel vor einem Postgebäude direkt auf dem Kopfsteinpflaster: Es gibt nichts Trennendes, nichts Erhöhendes - nur ein unmittelbares Gegenüber zum Betrachter. Im retrospektiven Blick mag es auch als ein Versuch der Demokratisierung von Kunst zu verstehen sein. Kunst ohne Pathos, ohne Schranken und ohne Sockel angesiedelt im alltäglichen Kontext, wie zufällig verweilend und doch den Aufstellungsort und den umgebenden Raum strukturierend. Es ist ein wenig wie die bildhauerische Quadratur des Kreises. Trotz aller Offenheit und unter dem Verzicht tradierter Präsentationsformen, bleibt die Plastik und ihr Aufstellungsort für den Bildhauer weiterhin eine ästhetische Einheit, die es zu definieren gilt. Hubertus von der Goltz begreift den Platz als Ort sozialer Beziehungen, als Raum der Begegnung im alltäglichen Miteinander der Menschen. Damit ist der Arbeit auch eine erzählerische Dimension zu eigen, die über eine bloße Abformung von Wirklichkeit hinausgeht.

Die Arbeit „Alter“ muss auch vor dem Hintergrund einer Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts einsetzenden Rückkehr der Figur in den öffentlichen Raum betrachtet werden. Der Weg der Künstler führte aus den heiligen Hallen der Museen in das raue Klima urbaner Landschaften. Es war dies eine Entwicklung, die gerade den Bildhauern völlig neue Möglichkeiten der Auseinandersetzung bot. Neue, offene Ausstellungsräume, die nicht mehr durch die Rechtwinkligkeit von geordneten Raumkörpern bestimmt werden, sondern sich durch eine Vielzahl von natürlichen und künstlichen Achsen auszeichnen.

Vertikalachse und Horizontalebene treten an die Stelle von begrenzenden Flächen wie Boden, Wand und Decke. Die Arbeiten im Freien bedürfen weitgreifender ästhetischer Ordnungssysteme, um ein befriedigendes Zusammenspiel von figurativer Gestaltung und urbaner Situation zu erreichen. In der Werkgruppe „Überquerung“ und „Jeder für sich“ erkundet Hubertus von der Goltz die komplexe und komplizierte Wechselwirkung von Figur und Raum. Das für den weiteren Verlauf seines ?uvres so bestimmende Motiv des Balancierens als auch die auf die Silhouette reduzierte Figur werden in dieser Zeit und im Kontext der Arbeiten entwickelt. Erste zeichnerische Entwürfe zum Thema Balancieren als bildhauerisches Problem datieren bereits in das Jahr 1979. Die Blätter sind aus heutiger Sicht mehr als Formulierungsskizzen zu verstehen, die grundsätzlich nah am künstlerischen Problem sind, aber zum ausfertigungsreifen gestalterischen Vorhaben noch der klärenden Zeit bedarf.

Die Reduzierung der Figur auf die Zweidimensionalität einer monochromen Silhouette und die Aufgabe der klassischen Boden/Sockelsituation, wie sie sich Anfang der achtziger Jahre in seinem Werk vollzieht, sind zwei gestalterische Schritte, die leicht aussehen und dennoch, im Lichte des eigenen Werks, eine revolutionäre Tat darstellen. Für Hubertus von der Goltz war es ein Abschied von allen bisher gebräuchlichen Gestaltungsstrategien. Die Vorstellung, das eine Figur, die sich ihres körperlichen Volumens entledigt und auf ihre Zweidimensionalität reduziert wird, nicht nur Raum gewinnen kann, sondern auch ihren Umraum völlig neu zu definieren versteht. So ist das klassische figurative bildhauerische Denken der Zeit nach 1945 auf den Kopf gestellt. Es ist nicht mehr ein Ringen um die Volumenfigur im Raum, sondern Figur und Raum werden eins. Die auf die Silhouette reduzierte Chiffre bildet den Ausgangspunkt für dramaturgische Vernetzung von verdichteter Körperlichkeit und Umwelt. Die Radikalität mit der Hubertus von der Goltz seine bis dahin vertraute bildhauerische Position verlässt, meint man auch in seinen Arbeiten aus dem Beginn der achtziger Jahre zu erkennen. Suchenden Schrittes bahnen sich in seinen Formulierungen die Protagonisten ihren Weg, immer bemüht in der Balance zu bleiben.

Anfänglich waren die Figuren noch flache Reliefs, mit typischen mimetischen Merkmalen, wie Mund und Augen, stilisierte Haare, Finger und Muskeln oder aus Draht gebogene Figurinen, die die menschliche Figur nachzeichnen. Letztlich war es aber nur der halbe Weg. Die Auflösung der Volumenfigur in einem Konzept, das den Raum selbst als ein künstlerisch gestaltbares plastisches Volumen interpretiert, musste noch radikaler sein, als es das Gestaltungskonzept von ?Jeder für sich? erahnen ließ. An die Stelle der pseudohaptischen Figuren traten bald die heute allen so vertrauten, im Material flachen und im Aussehen piktogrammartigen Formulierungen. Die monochrome Farbigkeit der Schattenrisse unterstützt die Typisierung im Figürlichen und verdichtet die Dramaturgie der Bewegungsmotive. Der tastend, suchende Schritt und die um balancierenden Ausgleich gehaltenen Arme werden zu einem typischen Motiv in den Arbeiten von Hubertus von der Goltz. Die Reduktion der Figur auf die Silhouette und das aufs existentielle Zeichen konzentrierte Bewegungsmotiv entwickelten sich im Laufe der Jahre zu einer universellen Bildsprache die in allen Kulturkreisen verstanden wird. Der gestalterische Schritt führte den Künstler vom menschlichen Abbild zum existentiellen Sinnbild. Die konzeptuelle Leistung war aus bildhauerischer Sicht die Befreiung der Figuren von narrativer Überfrachtung und anekdotischer Vordergründigkeit in einer Zeit, da die Bildhauerei stärker von vitalen Malerplastikern beeinflusst wurde als das sie aus den eigenen Reihen Perspektiven zur Überwindung einer zwar immer noch vorherrschenden aber im Laufe der Jahre mehr und mehr sprachlos gewordenen Gegenstandlosigkeit erhielt. Die Arbeiten von Hubertus von der Goltz sind der Versuch einer ästhetischen wie formalen Erneuerung der Skulptur aus sich selbst heraus.

Sieht man sich die bereits erwähnten ?Überquerungen? und ?Jeder für sich? näher an, so ist unschwer zu erkennen, dass es sich hier auch um Entwürfe für mögliche große, im Außenbereich zu realisierenden Arbeiten handelt. Die Entwürfe sind plastische Handlungsanweisungen, begreifbare Denkmodelle, die nach Verwirklichung im Verhältnis 1:1 drängen. Mit den temporären Installationen ?Über den Dächern von Kreuzberg? 1983 und ?Aus dem Nichts? 1984 auf dem Gelände der Kampnagelfabrik in Hamburg boten sich solche ersten Möglichkeiten der künstlerischen Erprobung im Großen. Trotz aller technischen Unwägbarkeiten in der Realisation, das künstlerische Potential und die ästhetische Kraft seiner Eingriffe in die urbane Wirklichkeit war unübersehbar. Seine Arbeiten im Innenraum aus jener Zeit, etwa die Installation ?Jeder für sich? aus dem Jahr 1984 in der Galerie Tupolew und mit gleichem Titel ein Jahr später im Kunstquartier Ackerstrasse in Berlin, unterscheiden sich auffällig von den im Kontext zur Architektur platzierten Figuren und verfolgen doch die gleiche Strategie. Der mit langen Holzstäben verstellte Raum in der Galerie Tupolew wird zu einem Labyrinth von sich verschneidenden Geraden. Die Durch- und Einblicke in die Tiefe des Raums erhalten eine grafische Qualität. Zu sehen war ein scheinbar chaotisches Vor- und Hintereinander von Linien im Raum oder polygonal begrenzte Zwischenräume in unterschiedlichsten Modalitäten. Wer genau hinsah, konnte in dem Raumgefüge die sehr klein gehaltenen balancierenden Figuren erkennen, die sich in dem Wirrwarr ihren Weg bahnten. In der wesentlich größeren Halle im Kunstquartier Ackerstrasse realisierte Hubertus von der Goltz ein Jahr später eine im Raum freistehende Installation, die von allen Seiten ansichtig war. Es entstand ein artifizielles Raumgefüge in einer alten Produktionshalle. Wie schon bei seiner Installation in der Galerie Tupolew waren auch hier die einzelnen Stäbe nicht durch Halterungen irgendwelcher Art miteinander verbunden. Das Stangengefüge war vom Künstler so ponderiert, das es sich letztlich von alleine hielt und zu einem selbsttragenden Geflecht wurde. In jenen Jahren wurde für Hubertus von der Goltz die Architektur, im Innen- wie im Außenraum, zu Aktionsfeldern, um neue, ungewöhnliche Raumsituationen zu schaffen. Die im Sinne eines plastischen Erlebens gewonnenen Erfahrungen, sind auch in seinen heutigen Arbeiten immer noch gegenwärtig. Beispielsweise in der Werkgruppe der Wegkreuze, in seinen mehr der Fläche zugewandten Wandreliefs oder den scheinbar von der Wand abkippenden, unregelmäßigen Vierecken.

Die Installation ?Über dem Abgrund? im Jahre 1985 für die Ausstellung Natur-Figur-Skulptur in Heilbronn wurde prägend für seine Arbeit der nächsten Jahre. Figuren, die hoch oben auf Dachfirsten oder auf dramaturgisch effektvoll in die Architektur gesetzten Stangen oder Keilen balancieren, wurden schnell zu einem ebenso eindrücklichen wie mit hoher Wiedererkennbarkeit ausgestatten Motiv. Die Metaphorik der Figur, das gleichnishafte Bild vom balancierenden Menschen wird zum Gefühlsträger, der die Menschen fasziniert. Durch seine Installationen schafft es Hubertus von der Goltz alltägliche Raumsituationen neu zu definieren. Das durch seine Arbeiten hervorgerufene ungewohnte Raumerlebnis führt auch zu einem veränderten Raumbewusstsein, das über die tradierten vier horizontalen Himmelrichtungen hinausgeht, weil das oben und unten, die Beziehung von Betrachter und Arbeit als ästhetische Mitte einbezogen werden.

In den letzten Jahren hat Hubertus von der Goltz durch zahlreiche große Außenplastiken seinen Wirkungsradius als Bildhauer erweitert. Die großen Bodenarbeiten, die beispielsweise auf Einladungen nach Chicago, Seoul, Berlin oder Harderwijk (Holland), entstanden sind, stehen auch für eine künstlerische Rückkehr aus der luftigen Höhe architekturgebundener Eingriffe hin zu solitären Raumzeichen. Die künstlerische Emanzipation lässt sich beispielhaft an der im Jahre 2001 für den Yongsan Family Park in Seoul entstandenen, rund 6 m hohe Arbeit "Crossing" ablesen. Die Arbeit steht beispielhaft für das Bestreben von Hubertus von der Goltz, dem Aufstellungsort ein neues, unverwechselbares Gesicht zu geben. Der weithin sichtbare Winkel mit der aufsteigend balancierenden Figur ist nicht nur ein weithin sichtbarer ?eycatcher? und Orientierungspunkt in dem neu angelegten Park, sondern auch ein Zeichen für den Neubeginn, für die Rückkehr der Menschen und der Kultur auf ehemaligem Militärgelände. Die Wanderung der Menschen im räumlich ausgedehnten Gelände lassen das Bild vom Lebensweg lebendig werden. Normalerweise ist der Mensch nach vorn, in die Zukunft gerichtet. Aber es gibt auch Augenblicke des Rückblicks, der Besinnung. Ein Zurückkehren, ja ein Zurückweichen aber ist auf dem Lebensweg nicht möglich. Der Mensch befindet sich immer am Scheideweg, in der Wahl zwischen dem rechten und falschen Weg. Hubertus von der Goltz thematisiert eines der großen Ursymbole des menschlichen Lebens, unaufdringlich und doch in seiner Wirkung von einer nicht nachlassenden Präsenz. Er gehört damit zu den wenigen figurativen Bildhauern unserer Zeit, die es verstehen, in ihrem Werk inhaltliche Aktualität und formale Zeitlosigkeit zu einer kontinuierlichen Formensprache zu legieren. Der Erlebniswert seiner Arbeiten, wie auch ihr hoher Wiedererkennungswert, resultieren aus einer ausgereiften singulären Formensprache. Die Eindrücklichkeit seiner Arbeiten erwächst aus dem ästhetischen Dialog von Figur und Raum, Figur und Architektur, Figur und Betrachter. Hubertus von der Goltz definiert mit seinen Arbeiten einen neuen Raum, ein neues Raumgefüge im Kontext des jeweiligen Ortes. Insofern sind seine Skulpturen Raumzeichen im landschaftlichen wie im architektonischen Kontext. Seine Arbeiten finden Beachtung und Aufmerksamkeit, weil sie überraschen, faszinieren und unsere Sehgewohnheiten irritieren. In der Simplizität ihrer öffentlichen Erscheinung, die alle statischen und tektonischen Bedingungen scheinbar so spielerisch leicht überwunden haben, begründet sich auch die metaphorische Wirkung seiner Arbeiten als prägnantes existentielles Zeichen. Die menschliche Figur ist immer auch ein gleichnishaftes, auf das eigene Selbst des Betrachters zurückweisendes Bild, mit dem man sich bewusst oder unbewusst identifiziert. Sie regt die Einbildungskraft des Menschen an. Die abstrakte, weil allgemein gehaltene Ansprache seiner Formulierungen, lässt Raum für eine individuelle Ausdeutung. Es entsteht ein Dualismus von künstlerischer Idee und aktiver Rezeption - ein Abwägen zwischen dem klar Artikulierten und dem Unausgesprochenen. In ihrer Erscheinungsweise sind die Arbeiten von Hubertus von der Goltz ein in sich geschlossenes, bildhauerisches Konzept. Auf der Ebene der Wirkungsästhetik bleiben seine Skulpturen ein offenes System - ein Angebot zur Wahrnehmung. Damit gehört Hubertus von der Goltz zu den wenigen deutschen Bildhauern der letzten Jahrzehnte, denen es noch einmal gelungen ist, sich eine individuelle und zugleich skulpturgeschichtlich bedeutsame figurative Position zu erarbeiten.

Friedrich W. Kasten