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Jeder Für sich – Momente im Raum

Es ist mir eine besondere Ehre, Sie heute Mittag in die Ausstellung „Jeder Für sich – Momente im Raum“ einzuführen.

Bevor ich Sie gleich zu den Arbeiten von Hubertus von der Goltz mitnehmen werde, möchte ich zunächst gerne mit Ihnen für einen Moment über ein Phänomen nachdenken, das in Bezug auf seine Arbeit von großer Bedeutung ist: die Orientierungslosigkeit. In dieser hektischen Zeit, in der wir leben, kommt Orientierungslosigkeit immer öfters und in immer extremeren Formen vor. Wir können die Orientierung verlieren durch noch nie so dagewesene, große Mengen an Informationen, die auf uns einströmen, oder auch durch die immer mehr zunehmenden Verkehrsströme, Menschenmengen, Flüchtlinge und orientierungslose Obdachlose. In Mitten solcher Massen muss das Individuum versuchen, sich aufrecht zu erhalten. Es gibt zahlreiche neue Krankheiten und psychische Störungen, welche genau auf dieses Phänomen der Orientierungslosigkeit zurückzuführen sind. Die Anzahl verwirrter Männer, die mit ihren Verzweiflungstaten in den Nachrichten kommen, nimmt erschreckend zu. Die Leute wissen nicht mehr, wo sie Halt finden sollen. Diese Problematik ließe sich zum Teil durch richtungsweisende Änderungen lösen, beispielsweise dadurch neue Sichtweisen zu etablieren. In einer chaotischen, desorientierten Welt werden solche Art von Strukturen und klaren Denkanstößen zu einem wesentlichen Bestandteil.

In vielen Fällen entsteht Orientierungslosigkeit aus einem Gefühl der Machtlosigkeit oder Wut heraus. Diese zwei Gefühle bilden eine gefährliche Mischung. Wer sich orientierungslos fühlt, hat in erster Linie das Bedürfnis nach jemandem, der die Richtung für eine Lösung zeigt, einen sicheren Hafen oder emotionale Ausgeglichenheit bietet. Diese Rolle eines Reiseführers ist extrem wichtig. Über Jahrhunderte hinweg haben Philosophen und Künstler, Denker und Dichter diese Rolle des seelischen Reiseführers übernommen. Sie waren früher eine Art Katalysator für unterschiedliche Funktionen und ein Antrieb für diverse Veränderungsprozesse. Und diese Rolle haben sie immer noch inne. Manchmal schaffen Künstler in ihrer Arbeit Chaos und Orientierungslosigkeit, um uns die Extreme unserer Zeit zu Bewusstsein zu bringen. Manchmal schaffen sie aber auch Leuchttürme und Hingucker, die uns die Möglichkeit zur Orientierung bieten, um unsere Position bestimmen, die richtige Denkrichtung oder ein gelungenes geistiges und körperliches Gleichgewicht finden zu können. Sie zeigen uns den richtigen Weg. Das ist eine große Leistung. Manchmal könnte man sich fragen ob, Künstler mit solch hochgesteckten Zielen nicht Gefahr laufen, sich zu übernehmen.

Diese Frage führt uns direkt zu der Arbeit von Hubertus von der Goltz. Er ist einer der Künstler, der neue Denkwege aufzeigt. Vor einigen Jahren wurde ich zufällig erstmals mit seiner Arbeit konfrontiert. Ich fuhr mit dem Auto auf der A28 von Zwolle nach Amersfoort. In der Ferne sah ich einen Mann auf einer Art Leitplanke entlang der Autobahn gefährlich balancieren. Wer war dieser Mann und was machte er dort? Suchte er den Nervenkitzel oder war er dabei sich umzubringen? War es ein einfach nur ein Rücksichtsloser oder ein erfahrener Akrobat? War er mutig oder vielmehr ein Tor? Oder war er vielleicht sogar schwer depressiv und lebensmüde?

Vielleicht war es Zufall, aber just in diesem Moment schallte aus meinem Autoradio Gavin Friday:
Each man kills the thing he loves.
The coward does it with a kiss
The brave man with a sword

Heute weiß ich, dass der balancierende Mann entlang der A28 sehr mutig ist. Er steht nämlich immer noch da. Seit Jahren hält er perfekt sein Gleichgewicht. Inzwischen hat er wegen seiner Hartnäckigkeit und Standhaftigkeit alle Arten von Funktionen für mich. Er dient zum Beispiel als Bezugspunkt entlang der Route. Im Vorbeifahren weiß ich: noch 24 Kilometer bis Amersfoort. Er behauptet seinen Platz im Raum. Er bildet eine visuelle Verbindung zwischen dem Höheren und dem Irdischen. Er ist ein Wegweiser, wie das bei jeder Skulptur von Hubertus von der Goltz irgendwie der Fall ist. Sie geben eine Richtung vor und zwar nicht nur im Sinne einer äußerlichen und rein physischen Art, sondern auch im Sinne einer Denkrichtung. Sie füllen eine Lücke, sie bestimmen einen Raum, einen Ort, eine Umgebung. Sie sind Ortsbestimmer.

Einige Jahre später sah ich beim Landhof Anninghof bei Zwolle die Skulptur „Keep the Balance“. Sie steht dort seit 2010. Der Titel wurde zum Motto für die Arbeit von Hubertus von der Goltz. Die Skulptur ist nämlich klar und überschaubar: Eine menschliche Figur sucht das Gleichgewicht in der Mitte von einem Gebilde aus vier roten Quadraten. Diese Situation kehrt in anderen Skulpturen in unterschiedlichen Formen und Qualitäten wieder. Aber das Prinzip ist immer dasselbe: der Mensch auf der Suche nach einem Gleichgewicht, zwischen Machen und Denken, zwischen adäquatem Handeln, wohlüberlegtem Planen und darauf folgenden Schritten. Für den Künstler ist die Suche nach Balance eine symbolische Handlung. Er konfrontiert uns mit Menschen, die in einer Welt voller Orientierungslosigkeit konzentriert ihren Weg suchen.

Es liegt nahe, sich in dieser Hinsicht auf die Nachkriegssituation im geteilten Deutschland zu beziehen. Es ist mir aber bewusst, dass dies ein gewagter Vergleich ist. Trotzdem gab es auch hier einen Zustand totaler Orientierungslosigkeit. Jahrzehntelang suchten und kämpften Menschen nach einer Vereinigung und einem Gleichgewicht in diesem geteilten Land.

Während es im Alltag oft eine merkwürdige Diskrepanz zwischen Traum und Realität, Denken und Handeln gibt, scheint es diese Widersprüche in den Werken von Hubertus von der Goltz nicht mehr zu geben. Dieses Dilemma scheint überwunden. Es bleibt nur noch ein einziges Ziel und das ist, zu tun, was man tun muss!

Eines der „Balancebilder“ wurde auf der Weltausstellung 2010 in Shanghai ausgezeichnet. Daraus entstanden neue Werke, in denen Quadrate eine wichtige Rolle spielen. Ab 2012 tauchte außerdem ein neues Thema/Objekt in Goltzs Arbeit auf: Baumwurzeln. Dies betrifft eine Reihe von Skulpturen, die betonen möchten, dass jedes Leben, jeder Baum und jede Pflanze sich aus einem unsichtbaren Wurzelsystem entwickelt. Wie jenes unterirdische Wurzelsystem bleibt auch die Identität eines Menschen oft versteckt. In einem weiteren, kürzlich erschaffenen Bilderzyklus sind Wellen ein zentrales Thema. Die zugrunde liegende Idee ist, dass das Leben jedes Einzelnen durch die Suche nach Gleichgewicht bestimmt wird. Darunter fällt beispielsweise das Suchen von Lösungen für unerwartete Probleme oder, um ein ganz plastisches Beispiel zu verwenden, eine veränderte Körperhaltung beim Trotzen gegen den Wind. Die Gesellschaft, unsere Herkunft und unser kultureller Hintergrund bestimmen zusammen die Eckpfeiler unseres Seins. Die Wellen können als Verweise auf die unvermeidlichen Pendelbewegungen verstanden werden, die jeder Einzelne machen muss, um sein (persönliches) Gleichgewicht herzustellen. Straßen, Kreuzungen, Baumwurzeln und Wellen sind klare Metaphern für die Entscheidungen jedes einzelnen Menschen. Sie sind Teil eines festen Musters. Dieses feste Muster führt zu einem zyklischen Denken. Das heißt, jeder Neuanfang impliziert schon ein Ende. Und jedes Ende markiert einen neuen Anfang. Jede Kreuzung bietet die Möglichkeit, die Richtung zu ändern.

In den Niederlanden hört man oft den Spruch, „We gaan ervoor!“, was soviel heißt wie,„Lass es uns angehen! Wir schaffen das!“. Diese Redeweise wirft Fragen auf. Betrifft dies ein Volk, das sich selbst Mut einreden will? Sind es Draufgänger oder einfach nur Angsthasen, die sich selber einreden möchten, dass sie es schon schaffen werden? Aber was schaffen sie dann genau?

In den Skulpturen von der Goltz sehen wir Menschen, die es schaffen. Obwohl sie damit nicht angeben, zeigen sie doch, dass sie mutig sind, dass sie selbstbewusst sind oder, dass es vielleicht auch gar keinen anderen Ausweg aus der Sackgasse gibt. Aber es gibt auch eine Kehrseite: Zweifel können einen überfallen. Menschen müssen nun mal in ihrem Leben Entscheidungen treffen, wenn sie sich an einem Scheideweg ihres Lebens befinden. Oft gibt es keinen Weg zurück.

Wir verdanken der bildenden Kunst, dass sie Fragen stellt. Hubertus von der Goltz macht dies in doppelter Hinsicht und ganz buchstäblich im Quadrat. Er hinterfragt den Status des Menschen und zwar sowohl den des konkreten Individuums im Speziellen wie auch der Menschheit im Allgemeinen. Sind wir von unseren Mitmenschen abhängig oder nicht? Wie stehen wir zu unserem Umfeld? Sind die Erkundungen der Menschen, die der Künstler darstellt, eine Art Täuschungsmanöver, wie man diese von Sportlern kennt, oder zielgerichtete Handlungen?

Wie dem auch sei, auf jeden Fall fällt auf, dass der Künstler eine Welt schafft, in der die Möglichkeiten scheinbar endlos sind. Das Objekt „Keep the Balance“ erlaubt noch eine tiefere Erkenntnis. Wir sehen einen Mann und eine Frau balancierend auf einem schmalen Balken, welche Teil einer leuchtend roten, geometrische Konstruktion sind. Die glatten Quadrate wirken wie eine Art Fenster auf die Welt, ein Fenster das außergewöhnliche Ausblicke auf die Umgebung bietet.

Der jüdisch-amerikanische Schriftsteller und Maler Kurt Vonnegut Jr. gestand einmal: „Ich kann mein Land, meinen Staat und Stadt und sogar meine Ehe nicht verändern, aber zum Glück habe ich diese Leinwand, dieses Stück Papier, diesen Tonklumpen, diese zwölf Takte Musik und diese Worte und diese kann ich genau so gestalten, wie sie sein sollten.“ Hier spricht ein wahrer Künstler: - gelassen, leidenschaftlich und bis auf’s Blut motiviert - weltfremd und nicht in der Lage, das Alltagsleben in die richtige Richtung zu lenken - aber ausreichend ausgestattet und erfahren genug, um das Material nach seinem Willen zu formen.

Das Zitat von Vonnegut lässt sich auch auf Hubertus anwenden. Er bringt uns das Wesen der Bildhauerei näher und näher an die Essenz des Lebens heran. Mit Vonnegut teilt er seine Faszination für die conditio humana. Aber während Vonnegut die Sinnlosigkeit unserer Bestrebungen betont, gibt es bei von der Goltz Konzentration, Konsens und den gesunden Menschenverstand. Seine Formensprache ist persönlich und kräftig. Was insbesondere auffällt, jeder vermag seine eigenen, ganz persönlichen Lebensfragen darin zu erkennen. Die Erfahrungen des Künstlers werden also auf eine universelle Ebene gehoben. Das ist die Ebene, auf der wir alle mit den menschlichen Skulpturen von Hubertus von der Goltz mitfühlen und mitdenken. Das Vertraute ist also der Haken, woran wir in seiner Arbeit unsere eigenen Wahrheiten hängen können.

Die Ausstellung, die heute Nachmittag eröffnet wird, reflektiert über die Erfahrung des Raumes und die Erfahrung des Augenblicks. Die Ausstellung bekräftigt aber auch die besondere Beziehung zwischen dem Künstler und der Galeristin Helga Hofman. Sie arbeiten schon seit Jahrzehnten zusammen.

Ein Wort zum Schluss: Kunst ist manchmal eine Art Zerrspiegel, der unsere menschlichen Eigenheiten vergrößert. Die draufgängerischen Posen der menschlichen Gestalten von Hubertus sind nicht so sehr beängstigend oder unheimlich als vielmehr irritierend. Sie spiegeln unsere menschliche Schwächen und Verletzlichkeit. Aber dahinter liegen auch immer die Leidenschaft für das Leben und der Glauben an den Sinn der bildenden Kunst. Ich hoffe, dass Sie dies heute Nachmittag in der Erfahrung der Ausstellung erleben werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Wim van der Beek
Autor und Kunstkritiker Kurator für zeitgenössische Kunst