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Eröffnungsvortrag, 12.4.2019 im Ostpreußisches Landesmuseum

Dr. Rosa v.d. Schulenburg (Akademie der Künste, Berlin)

Meine sehr geehrten Damen und Herren,   

Hubertus von der Goltz, dessen Werke hier im musealen Innenraum unter dem schönen Titel „Balance und Perspektiven“ präsentiert werden, dürfte nicht nur den Besuchern und Besucherinnen, die das Museum kennen, kein Unbekannter sein. Seine Außeninstallation mit dem Titel „Zwischen den Zeiten“ verbindet nicht nur wie eine stählerne Ankersicherung seit drei Jahrzehnten (und vor dem jetzigen Erweiterungsbau für alle gut sichtbar) zwei Gebäudeteile des Museums, sondern schließt – in Gestalt eines Menschen auf schmalem Grat, unter dem sich ein Riss auftut und der doch beherzt den Schritt wagt – symbolisch die Lücke und schlägt die Brücke zwischen dem niedersächsischen, also ziemlich westdeutschen Lüneburg und dem Ostpreußischen Landesmuseum, das hier als lebendiger Erinnerungsort verankert ist. Auch die Lüneburger, die vielleicht nicht so weit den Kopf heben, um diese federnd auf der Stahlkonstruktion lagernde Schattenfigur in ihrem Balanceakt gewahr zu werden, dürften die lebensgroße Eisenplastik kennen, die Hubertus von der Goltz von seinem Vater schuf. Gleich einem Wanderer, der Wind und Wetter trotzend auf dem Wanderstock gestützt kurz inne hält, steht er vor dem Museumsbau.

Der heimatvertriebene, einstige Gutsbesitzer, Land- und Forstwirt aus dem ostpreußischen Kreis Mohrungen, Otto Freiherr von der Goltz-Domhardt, fand – anders als Ahasver, der ewige Wanderer – eine neue Heimat im Westen. Sein Sohn hat ihm dieses Denkmal gesetzt und den Namen „Alter“ geben. Ich bin versucht, zu ergänzen: „Alter ego“. „Alter ego“, diese von Cicero geprägte Formulierung eines „zweiten Selbst“, für eine Menschen, der einem nahesteht, ist zum geflügelten Wort geworden für eine Identifikationsfigur, die gleichsam Teil der eigenen Identität ist. Ein alter Mann, nicht auf einem Sockel stehend, sondern auf Augenhöhe mit den Passanten und denen, die sich der preußischen Geschichte im Landesmuseum nähern, und ein Vater auf Augenhöhe mit seinem 1941 geborenen Sohn, der als kleines Kind die Flucht in den Westen erlebte und hier als Mensch und Künstler angekommen ist, Fuß gefasst und seinen Horizont erweitert hat.

Hubertus von der Goltz ist ein weltweit bekannter Künstler geworden. Das war ihm weder in die Wiege gelegt, noch versprachen seine frühen Jahre, die sein Vater vielleicht mit „Irrungen und Wirrungen“ betitelt hätte, dass sein Hubertus seinen Weg finden und trotz aller sich womöglich auftuender Abwege und möglicher Zweifel finden würde.

Hubertus‘ bereits sehr frühe Liebe galt den Künsten, zuvörderst der Musik. 1959 gründete er mit Freunden eine Dixieland-Band und besuchte schon während seiner Schulzeit und nach deren Ende – wie er sagt – wohl sämtliche Jazzkonzerte Hamburgs. Er wollte Musik studieren, biss mit diesem Wunsch bei seinen mehr Natur- als Kunst-affinen Eltern freilich auf Granit. Die Kompromisslösung war eine Klavierbauer-Lehre beim einem der großen in dem Metier, bei Steinway. Hier zeigte sich seine handwerkliche Begabung, und die Musik war auch nicht Außen vor. Sein bester Freund seit Kinderzeiten, in dessen Elternhaus Hubertus mit vielen Kunstbildbänden in Berührung gekommen war, studierte zudem in Hamburg Kunst.
Die ersten Bilder, die Hubertus selbst schuf, waren Reisefotografien, die – zu seiner eigenen Überraschung – sich vor allem der Architektur und dem bebauten, städtischen Raum widmeten. Dies als Zwischenbemerkung, auf die ich noch zurückkommen werde.
Die Arbeit bei Steinway nach erfolgreichen Abschluss von handwerklicher und kaufmännischer Lehre, dann als ausgebildeter Verkäufer, Techniker und Musiker-Betreuer in Berlin, gefiel ihm wohl, aber, wie er sagt, die konservativen Strukturen des Betriebs verleideten ihm jedes Engagement. Er entschloss sich einen neuen Weg einzuschlagen, der in die Berliner Hochschule der Künste, wenn auch noch nicht in ein Bildhaueratelier führen sollte (das traute er sich noch nicht zu), sondern in die Architekturabteilung der HdK. Da ihn seine Eltern nicht unterstützten und er seine Stelle gekündigt hatte, finanzierte er sich die Anfänge seines Studium als Architekturmodell-Bauer. Er wusste Pläne zu lesen und besaß die nötigen handwerklichen Fähigkeiten. Doch die Arbeit in den Architekturbüros ließ ihn erkennen, dass man hier in ähnlichen Abhängigkeiten stand, denen er entflohen war. Er wusste nun was er werden wollte: ein freier Bildhauer.

Es war 1968, da wagte man so manchen Auf- und Ausbruch aus verfestigten Strukturen. Mit zwei Kommilitonen gründete Hubertus eine Arbeitsgruppe, die sich dem Thema „variable Räume“ widmete und mit Bildhauern zusammenarbeitete. 1969 wechselte er dann in die Abteilung Freie Kunst und befasste sich nach der Grundlehre samt und sonders mit dem Modellieren der menschlichen Figur. Er finanzierte u.a. sein Studium, indem er als Tutor für andere Studierende in der Gipswerkstatt die Formen für ihre plastischen Arbeiten goss. Damit erweiterte er nicht nur seinen handwerklichen Horizont, sondern kam auch über die Negativform als negativen Raum, der das Positiv als absente Gestalt birgt, ins Nachdenken. Die Abwesenheit des Eigentlichen, das in diesem Leerraum als Negation, als Abstraktion manifest, aber nicht fassbar ist, hat wegen dieses Unanfassbaren etwas Unbegreifliches und fordert damit den Intellekt wie die Emotionen heraus. Denken Sie etwa an die Negativformen Rachel Whitereads. Nicht nur bei dieser Form- und Raumfrage machte sich Hubertus von der Goltz bereits grundsätzliche Gedanken, die weit über produktionstechnische und ästhetische Fragen hinausgingen.

Das Verhältnis von dreidimensionaler, statischer bildkünstlerischer Gestaltung zu ihrer Umgebung und den sich darin bewegenden Betrachtern war ihm schon früh ein Thema. Es ist eine Dreierbeziehung von Werk, Raum und Betrachterschaft, die für diese Kunst generell wichtig, hier aber – mehr noch – wesentlich ist. Die Kunst im öffentlichen Raum, speziell Kunst am Bau, hatte er, bereits vor seinem Studium, als fotografierender Urlauber, der durch Europa getrampt war, fest im Blick gehabt. Ihn interessierten die Beziehungen des betrachtenden Ichs zum konkret substantiellen Dreidimensionalen des Stadt- und Landschaftsraums, wie die des Luftraums, der als Leerraum diese Wahrnehmung erst ermöglicht. Seine Reisen hatten ihn u.a. nach Polen geführt, wo die virtuos geschnitzten Altäre des spätgotischen Bildhauers Veit Stoß mit ihrer speziellen Raumauffassung und -durchdringung einen bleibenden Eindruck hinterließen sowie in Spanien die Sagrada Família von Antoni Gaudi.

Hubertus von der Goltz‘ Arbeiten sind häufig weit über den Köpfen der Passanten installierten, also oberhalb der üblichen Blickrichtung von Menschen im Stadtraum. Diese ist vor allem vorwärts und tendenziell eher auf den Boden gerichtet. Wer aber zufällig diese so einfachen, wie spektakulären Balancierenden wahrnimmt, der begreift sofort, um was es geht, um das Halten von Gleichgewicht, was für jeden von essentieller Bedeutung ist, auch wenn es uns im Alltagsleben nicht beschäftigt, es sei denn man ist auf einen Rollator für die sichere Fortbewegung angewiesen. Die Ensembles aus schmalem Weg und balancierendem Figuren gehören definitiv nicht in die Kategorie ästhetischer Stadtmöblierung, die auf gleicher Ebene mit den Fußgängern ist und von diesen – im Sinne des Wortes – besetzt oder begangen werden könnten. Im Gegenteil: die Werke des Hubertus von der Goltz wahren räumliche Distanz. Man muss den Blick zu ihnen erheben und doch fühlt man sich in Relation zu ihnen nicht klein, sondern auf besondere Weise angesprochen. „Es ist ein Körper in der Ferne, vor dem Hintergrund von Weite und Leere ein verlassener, in seiner Kleinheit fast schon flüchtiger Körper, der aber natürlich und unprätentiös daherkommt“, so Katrin Arrieta trefflich beschreibend in einem Text zu der Ausstellung „Gedankenwege“, die 2016 im Kunstmuseum Ahrenshoop zu sehen war. Die auf schmalen Grat Balancierenden sind dem Zugriff, nicht aber dem Begreifen entrückt. Es scheint, als habe Hubertus von der Goltz, das Credo seines Lehrers, dass Kunst für alle da sei soll, erfolgreich verstanden, zu realisieren.

Doch weiter noch ein paar Anmerkungen zum Werdegang dieses Schülers von der Goltz, dessen große Stunde zu der Zeit noch nicht geschlagen hatte, der aber in den 1970er Jahren als DAAD-Stipendiat in Italien – wie so manch anderer deutscher Künstler zuvor – entscheidend inspiriert wurde. Und zwar beim Anblick der Geschlechtertürme in San Gimignano, die er von seinem Atelierfenster aus sehen konnte. Sie erschienen ihm wie Sockel, Säulen und Stelen für die Selbstpräsentation ihrer vermögenden Erbauer. Sockel JA oder NEIN ist eine der wesentlichen Grundsatzfragen, die jeden Bildhauer umtreiben. Wie Sie sehen, sollte sich Hubertus von der Goltz auf ganz besondere Weise von dieser Art von Bedeutungser- bzw. überhöhung distanzieren. Eine Sinn- und Schaffenskrise, verstärkt durch eine schwere Grippe ließen ihn radikal um- und neudenken, weg von der individuellen Portraitplastik hin zu einem anderen Menschenbild, provoziert durch die Frage, wie man, das, was jeden Menschen betrifft, allgemeingültig, künstlerisch zum Ausdruck bringt, so dass sich jeder angesprochen fühlen kann.

Hubertus von der Goltz betreibt mit seiner Kunst nichts weniger als Existenzphilosophie. Seine visuellen Metaphern des Balancierens, von Gratwanderung, Weg, Abweg, Kreuzung, Standpunkt, Perspektive und der Frage der Begegnung mit dem Anderen, dem Kreuzen der Lebenswege, sind für die Betrachter intuitiv verständlich. Er stellt indirekt, mittels visueller Rhetorik die großen Fragen: Woher kommen wir, wohin gehen wir –  wer sind wir überhaupt? Seine Gestalten haben weder individuelle Züge, noch sind sie typisiert. Sie sind jedoch an der Körpersilhouette und den Bewegungsmustern eindeutig erkennbar männlich oder weiblich (und keine Unisex-Piktogramm-Figuren). Und diese Menschen, die pars proto für den Menschen stehen, sind in den sogenannten besten Jahren, also weder ganz jung, noch alt. Sie sind Chiffren der Spezies Mensch. Das Körpervolumen ist unerheblich, nicht aber die Körpersprache.

Sie treten leicht, tänzelnd, taumelnd, manchmal fast schwebend in Erscheinung, und doch der Gravitation zwingend unterworfen, im Leerraum Halt suchend und allzeit Absturz gefährdet. Die dunkle Figurenfläche, markant in der Gebärde und geschlossen konturiert, zielt auf Fernwirkung. Diese Gestalten treten als zweidimensionale Schatten in Erscheinung, quasi als Schatten unserer Selbst. Wieder kommt mir der Ausdruck Alter ego in den Sinn. Die „von der Goltzschen“ Protagonisten (als Protagonisten bezeichnete die Schreiber der griechischen Tragödien denjenigen, der die Hauptrolle spielt, später wurde er oder sie zum Helden). Diese „von der Goltzschen“ Protagonisten freilich bescheiden sich, sind keine Helden, zumindest gerieren sie sich nicht in Heldenpose. Es sind Luftmenschen von transzendenter Körperlichkeit, zeitlos, ortlos, im steten Übergang. Sie meinen den Menschen an sich, der im Leben agiert, reagiert, dem der aufrechte Gang wesentlich ist, was ein Kraft- und Geschicklichkeitsakt ist, und im Akt des Stehens, Gehens, Balancierens auf schmalem Weg noch eine Steigerung der Anstrengung bedeutet. Welchen Erfolg dem Unterfangen, ein Ziel zu erreichen, beschieden sein wird und was einem dort erwartet, bleibt in einem solchen Maße offen, dass der Mensch als auf sich zurückgeworfen erscheint, wenn man den Gedankenweg, den von der Goltz auslegt, selbst weitergeht. Die Hybris monotheistisch religiöser Seinsgewissheit ist dem Künstler fremd. Seine Schattengestalten, kommen aus dem Nichts, treten in Erscheinung und bewegen sich vorwärts auf ein ungewisses Ziel hin, und zwar jeder für sich. So auch der Titel eines Figuren-Ensembles, das hier ausgestellt ist. Sie werden sich nie wirklich begegnen können, diese beiden, selbst wenn die schmalen Grate, auf denen sie balancieren, sich in einer vom Betrachter imaginierten Fortsetzung kreuzten. Sie können auf der Stelle das Gleichgewicht suchen oder vorwärts streben. Es scheint keinen Spielraum für ein Abweichen, Umkehren oder Verweilen zu geben, nachdem Motto, es strebt der Mensch so lange er lebt – in Abweichung eines Goethe-Zitats. Höchstens der Wunschgedanke von Goethes Faust: „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön.“ Ein dauerhaftes Innehalten zu Lebzeiten ist den Sterblichen freilich nicht beschieden. Hubertus von der Goltz hat mit seinen Figuren-Ensembles eine treffliche künstlerische Ausdrucksform gefunden für ein Grundthema des menschlichen Seins. Er stößt Narrative bildrhetorisch an, aus denen die Betrachter, der/die sich davon ansprechen lassen, schlussfolgern kann.

Der Raum ist dabei immer mit im Spiel. Ohne Raum ist Nichts, existiert nichts, ist nichts vorhanden. In unserem Fall, könnte man auch kalauernd sagen: Ohne ihn GEHT nichts: Der Raum, ist leer und zugleich bedeutungssatt: etwa als Ausdruck von Offenheit und Ungewissheit oder als Frei- und Spielraum. Er erst ermöglicht Bewegung und Standpunkt. Die Wege, ob als einzelner schmaler Grad oder als Wegesystem mit Kreuzungen, scheinen den Frei- und Spielraum gangbar zumachen, und sind doch zugleich ihr Restriktiv (ihre Be-/Einschränkung). Ein Abkommen von Weg würde Absturz bedeuten, ein Absturz, der sich bei von der Goltz –  nicht wie bei Max Beckmanns berühmten Gemälde „Abstürzender“ – in ein Schweben in den Himmel umkehrt. Das Schwindelgefühl, auf Englisch Vertigo, erzeugt Hubertus von der Goltz anders als etwa Alfred Hitchcock in seinem berühmten Film Vertigo, wo die Höhenangst symbolisch für seelische Abgründe steht. Es ist nicht alleine das Motiv des Balancieren, das uns intuitiv auf bestimmte Weise anspricht, sondern auch unser Schwanken zwischen der zwei- und der dreidimensionalen Wahrnehmung des gezeigten Aktes. Die Bildhauer-Plastik hat die Leichtigkeit und Dimension einer Zeichnung im Raum (das haben diese Arbeiten von H.v.d.G. mit denen Fred Sandbacks gemeinsam, dessen Arbeiten im Raum aus dünnen Metallgestängen, manchmal auch gespannten Schnüren, ihr Volumen gewinnen, aber im Prinzip nichts anderes sind als plastische Zeichnungen im Raum).

Die Dimensionen des Universums sind virtuell gedachte Entitäten, unser Aktionsraum darin ist bescheiden. Der Raum ermöglicht und negiert zugleich alles himmelsstürmerische Wollen und Können. Wer dies erkennt, der übt sich in Demut und konzentriert sich auf das Finden von Gleichgewicht. Das verleiht ihm/ihr tröstliche Schönheit.

Wenn Sie nach oben gehen, treten Sie unter den großen Gedankenbaum des Künstlers und wenden den Blick nach oben zu dem filigranen Geflecht der Gedanken, die das Geäst bilden. Die Gestalt des Gedankenbaums ist abstrakt; sie lässt Ihnen Spielraum für Ihre Gedanken über das was Sie im Leben, vom Leben wollen, woher Sie kommen, ob Sie da sind, wo Sie hinwollten, ob Sie noch Ziele haben, und sich gleichwohl fragen „Which way“. welcher Weg, so der Werktitel der großen Wandzeichnung.
In der Wandarbeit scheinen die Wege (in Weiß) breiter und sich sogar zu Flächen zu erweitern, die Begegnungen möglichen machen würden. Das Bewegungsmotiv und die Platzierung der weißen Schattenfigur vor dunklem Grund verrät freilich, dass auch sie sich nicht auf einem breiten Weg bewegt, sondern am schmalen Rand balanciert. Wenn aber nur die Grenze zwischen Schwarz und Weiß gangbar ist, verkehren auch die weißen Flächen sich zu etwas Unwegbaren/Unwägbaren.

Lassen Sie sich von den Balacierenden des Hubertus von der Goltz zu der Frage anregen: Alles im Lot? Und suchen Sie beherzt bei sich das innere Gleichgewicht, es liegt an Ihnen – so die Botschaft des Künstler – nicht an den anderen, ob Sie es finden.